"Green Deal" - Interview mit Marco Mensink

Cefic-Generaldirektor Marco Mensink sieht im Green Deal auch Chancen für die Industrie – wenn ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten bleibt.

Wie sieht Cefic den Green Deal der EU?

Cefic unterstützt den Green Deal und das EU-Ziel, bis 2050 klimaneutral zu werden. Es ist sehr interessant, dass China nun auch sein Neutralitätsziel bis 2060 angekündigt hat. Energieintensive Industrien wie die Chemie sind für die europäische Wirtschaft unverzichtbar, da wir wichtige Wertschöpfungsketten beliefern. Der Green Deal erfordert, dass bis 2030 technologische Durchbrüche in Europa verfügbar sind. Die Frage ist, wie die Industrie am Laufen gehalten und das Geld zur Innovationsfinanzierung verdient werden kann. Er setzt auch neue Arten von Chemie und Chemikalien voraus. Kunststoffrecycling steht aktuell als Thema im Vordergrund, aber dabei wird es nicht bleiben. Der Green Deal wird für viele auch eine Marktchance sein. Zum Beispiel sind Investitionen im Rahmen des COVID-19-Konjunkturprogramms und des Green Deals in die „Renovierungswelle“ für bessere Gebäude-Energieeffizienz, die Wiederbelebung des Automobilbaus und in die Schaffung einer Infrastruktur für erneuerbare Energien als Schlüsselbereiche dringend erforderlich.

Stichwort Kreislaufwirtschaft: Wie wird sich unsere Industrie verändern (müssen)?

Elektrifizierung, neue Öfen- und Crackertechnologien, Wasserstoffchemie, CO2-Abscheidung, -Speicherung und -Nutzung sowie biologische und recycelte Ausgangsstoffe gehören dazu. Um alle CO2-Emissionen zu beseitigen, muss die Industrie in nur ein oder zwei Investitionszyklen einen massiven Wandel durchlaufen. Nichts wird so bleiben, wie wir es heute kennen. Entscheidend ist, dass die Regierungen die Infrastruktur bereitstellen, damit wir vorankommen. Pipelines, Netze, Verbindungsleitungen usw. werden benötigt, um das enorme Wachstum der Erneuerbaren zu ermöglichen, die für die Elektrifizierung der Industrie und die Nutzung von Wasserstoff erforderlich sind. Ohne international wettbewerbsfähige Energiepreise in Europa verlieren wir.

Könnte die neue Nachhaltigkeitsstrategie für Chemikalien die Wettbewerbsfähigkeit schwächen?

Eine starke und kohärente Chemikalienstrategie, die die heimische chemische Industrie unterstützt, ist ein Muss für die Erreichung des Green Deals. Bevor das jetzige Regelsystem sogar über das GHS* hinaus verschärft wird, sollte der Ansatz wie folgt beginnen: Gesetze durchsetzen, Innovationen und die Wettbewerbsfähigkeit von kleinen und mittleren Unternehmen stärker fördern sowie die Entwicklung nachhaltiger und sicherer Substanzen unterstützen und mit der Außenpolitik ein besseres Verständnis des europäischen Systems in der Welt erreichen. Rechtliche Maßnahmen allein bewirken keinen Wandel von Industrie und Märkten. Gefragt sind eine politische Vision, ein Zeitplan und ein Plan. Wir wissen, dass nach dem derzeitigen Plan die Vorschriften für Endokrine und Mischungen zur Überprüfung anstehen. Aber ein grundsätzlicher Ansatz für CMR** und andere Stoffe in Konsumgütern liegt ebenfalls auf dem Tisch. Dabei geht es um unsere Wettbewerbsfähigkeit und um die Frage, inwieweit unser Sektor in Europa funktionieren kann. Wir wünschen uns einen Dialog auf höchster Industrie- und Politikebene, um diesen Ansatz zu diskutieren.

Welche Risiken für die europäische Chemieindustrie sehen Sie, wenn Sie an die Konkurrenz in Asien oder in den USA denken?

Das Risiko hängt an der Frage, ob es uns gelingt, Investitionen nach Europa zu locken und den „Standort Europa“ im Zentrum einiger der größten Chemieunternehmen der Welt zu halten. Dies hat nicht nur mit den Regulierungsmaßnahmen zu tun. Wesentlich ist die Tatsache, dass prognostiziert wird, dass unsere Bevölkerung konstant bleibt oder sogar abnimmt und die Märkte nur marginal wachsen werden. Daher ist die Kernfrage: Wie holen wir uns den europäischen Anteil am globalen Wachstum. Schon bald könnten allein in Nigeria so viele Menschen leben wie in Europa insgesamt und Afrika vor unserer Haustür der größte Markt der Welt sein.

Was ist Ihre Vision für unsere Industrie 2050?

Wir haben unsere Vision in dem Cefic-Bericht „Molecule Managers“ zur Mitte des Jahrhunderts beschrieben, der einen plausiblen Weg zu einem wohlhabenden, nachhaltigeren Europa im Jahr 2050 aufzeigt. Dies bedeutet, Innovationen für zirkuläre Modelle zu schaffen sowie bei Nachhaltigkeit und neuen Technologien an der Spitze zu stehen. Ich bin zuversichtlich, dass die Chemieindustrie auf dem Weg zum Übergang führend sein wird und wir mit der Gesellschaft diese immense Aufgabe bewältigen werden.

*  Global harmonisiertes System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien
** CMR (cancerogen mutagen reprotoxic): krebserzeugende, erbgutverändernde und fruchtbarkeitsgefährdende Stoffe

 

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